Durch die Endlichkeit zum Glück?

Worüber jemand wie ich – Expertin fürs Älterwerden – am besten nicht redet, will sie ihre KundInnen behalten, ist das Thema Endlichkeit. „Da sind noch so viele Jahre hin!“ höre ich sofort reflexartig entrüstete Stimmen rufen und „Es geht um das Leben. Sterben tu ich später!“. Diese Abwehr, dieses Tabu, ist erstaunlich, wird sich doch der Mensch eigentlich mit jedem Lebensjahr der Begrenztheit seines Lebens bewusster. Was, wenn wir uns vor der Endlichkeit gar nicht fürchten müssten, sondern sie unser Motor für das eigene Glück werden könnte, wenn wir erst durch die Endlichkeit zum Glück finden? 

Was ist Glück?

Die Frage nach dem Glück ist wohl eine der meistgestellten Fragen der Menschheit. Was macht glücklich? Geld, Karriere, Macht, Luxus, Freiheit oder sind es doch ganz andere Dinge, Familie, Freunde, Liebe? Was genau ist Glück? Ist es dieses Hochgefühl bei der Ankunft im Urlaubsparadies, nachdem man jahrelang auf seine Traumreise gespart hat? Oder ist Glück eher ein beständiges Gefühl von gleichmäßiger Zufriedenheit? Sind es vielleicht6z diese kleinen Momente, wenn scheinbare Banalitäten des Alltags uns zum Leuchten bringen, eine aufblühende Blume, der Marienkäfer, das Lächeln eines Menschen, ein Sonnenaufgang?

Die Endlichkeit und ihre überraschende Wirkung

Menschen, die durch schwere Erkrankungen aus dem Leben geschleudert und mit ihrem potentiellen Ende konfrontiert werden, erzählen oft, dass sie erst durch die plötzliche Konfrontation mit ihrer Endlichkeit das Leben richtig intensiv wahrnehmen und Glück erleben.

Ilse Helbich, die große österreichische Autorin, die erst nach ihrem 60er eine schriftstellerische Karriere gestartet hat, meinte kürzlich, anlässlich ihres 98 Geburtstages, in einem Interview: „Das Leben ist dadurch, dass man ein Begrenzungsgefühl hat, unbeschreiblich schön.“

Und in dem Buch „Gelassen und ein bisschen weise. Lebensansichten starker Frauen“, in dem sich 21 Portraits von Frauen jenseits der 60 finden – prominente Frauen wie Senta Berger, Hannelore Elsner und Gesinde Schwan ebenso wie nicht minder interessante, aber unbekannte Frauen – finden sich in vielen Interviews Anmerkungen dazu, dass erst die näher rückende Endlichkeit des Lebens die Sinne und das Herz für das pralle Leben geöffnet hat.

Warum tabuisieren wir unsere Endlichkeit?

Warum also dieses Tabu, hinter dem sich pure Angst verborgt? Im Prinzip ist die Endlichkeit in unserem Leben doch jeden Tag präsent. Von der Geburt an kann unser Leben jede Sekunde vorbei sein. Niemand ist davor gefeit, schwer krank zu werden, einem Umfall zum Opfer zu fallen oder plötzlich, ohne großer Ankündigung, von einem Tag auf den anderen, zu versterben. Niemand. Kein Kind, kein Erwachsener, kein älterer Mensch. Das Risiko zu sterben ist stets präsent. Das wissen wir im Prinzip auch alle, doch wir verdrängen diese Tatsache und bauen dafür ein gedankliches Konstrukt: Der Tod betrifft immer nur die anderen. Nie einen selbst.

Mit 20 denkt man, man hat unendlich viel Zeit, das Ende des Lebens wird in dieser Lebensphase kaum gedacht, es ist schlichtweg unvorstellbar. Mit 40 wird einem meistens die eigene Endlichkeit das erste Mal bewusster. Huch, schon so viel Zeit vergangen? Erste Fältchen zeigen sich. Danach geht es vorwärts, mit 50 überschreiten die meisten Menschen für sich eine imaginäre Grenze, mit 60 die nächste, mit 70, mit 80…

Wir alle wissen, die Zeit wird knapper und das macht Stress. Da will noch so viel von uns gelebt werden, so viele Ideen wollen umgesetzt werden, so viele Projekte verwirklicht, so viele Abenteuer erlebt. Gleichzeitig bleiben wir in unserem Trott gefangen, in unserem Hamsterrad, in unseren Glaubenssätzen, unseren Begrenzungen, unseren Prägungen aus einer Zeit, die wir doch eigentlich schon längst hinter uns gelassen haben.

Das Tabu der Endlichkeit – eine Ausrede fürs Verbleiben im Trott?

Vielleicht ist diese Tabuisierung unserer Endlichkeit, dieses so tun als hätten wir ja noch ach so viel Zeit, selbst noch mit 70 oder 80, nichts anderes, als eine Entschuldigung für fehlenden Elan, das Leben und das persönliche Glück in die Hand zu nehmen? Eine Entschuldigung für fehlenden Mut und wenig Lust auf Selbstverantwortung.

Als Krankenpflegerin habe ich viele Menschen in ihrer letzten Lebensphase begleitet, Kinder und junge Menschen ebenso, wie alte Menschen. Ich habe sterbende Kinder erlebt, die in ihren letzten Stunden meinten „Schön ist es gewesen“ und ich habe alte Menschen erlebt, die in ihren letzten Lebensminuten erkannten, dass sie die Möglichkeiten, die ihnen das Leben bot, zu wenig genützt haben. Zu wenig Zeit mit den Liebsten, zu wenig getan, wonach das Herz rief, zu wenig Mut gehabt für die Liebe.

Stell Dich Deiner Endlichkeit – Lebe Dein Leben!

Daher: Warum sich nicht der eigenen Endlichkeit jeden Tag aufs Neue stellen und gerade deshalb, das Leben feiern? „Lebe, als wäre jeder Tag Dein letzter!“, diesen Spruch kennen wir doch alle und vergessen ihn doch jedes Mal aufs Neue.

Ja, mit zunehmendem Alter, wird unsere Lebenszeit knapper. Darum nimm Dein Leben in die Hand und kümmere Dich um Dich und Dein Leben. Wirf Konventionen über Bord, reiß Begrenzungen nieder, pfeif auf die Erwartungen anderer und nimm Dein Glück in die Hand.

Und – auch dieses Thema sollte jemand wie ich – Expertin fürs Älterwerden – nicht in den Mund nehmen, will sie ihre KundInnen behalten: Beschäftige Dich mit dem Tod. Ihn zu fürchten, ist kontraproduktiv und raubt Dir die Energie fürs Leben. Der österreichische Arzt und Theologe Prof. Johannes Huber meint etwa in seinem neuen Buch „Die Kunst des richtigen Maßes“, dass es die Zeit gar nicht gibt, die Zeit ist ein Konstrukt des Menschen, eine subjektive Wahrnehmung unserer Spezies. Aber wenn es keine Zeit gibt, dann gibt es auch kein Vorher und Nachher und damit auch kein Leben vor oder nach dem Tod. Huber geht davon aus, dass wir immer SIND, nur halt in verschiedenen Formen. Weil: Energie geht nie verloren.

Wozu sich also fürchten?

Quellen/ Links/ weitere Infos

Die Frau mit den vier Leben. Ilse Helbich. ORF/Radio Ö1. Artikel HIER abrufbar

Ute Karin Seggelke. Gelassen und ein bisschen weiser. Lebensansichten starker Frauen. Herder Verlag. 2. Auflage. 2020

Krone bunt vom 31.10.2021. Silvia Jelincic. Was bleibt? Seite 8-9

Johannes Huber. Die Kunst des richtigen Maßes. Edition a. 2021