Dein Pensionsantritt und die Viele-Welten-Theorie

Vor einigen Tagen habe ich einen Blogartikel und ein Youtube-Video veröffentlicht zur Frage: Weiterarbeiten in der Pension - ja oder nein? Die Reaktionen in den Sozialen Medien waren spannend und teils sehr emotional. Besonders drängend empfand ich die Zurufe "Unbedingt weiterarbeiten!" Sie sind der Grund, warum es nun einen zweiten Blogbeitrag zu diesem Thema gibt. Ich finde nämlich, das Thema ist spannender und vor allem vielschichtiger, als diskutiert. Also, los gehts in Runde 2 🙂

neues leben in der pension

In meinem letzten Blogbeitrag und letzten YouTube-Video habe ich darüber nachgedacht, ob ich mit meinem Pensionsantritt jede Erwerbsarbeit beenden oder ob ich weiterarbeiten soll. Diese Frage beschäftigt mich derzeit persönlich (Ende 2025 habe ich Pensionsanspruch), aber ich finde sie auch deshalb so wichtig, weil diese Frage sich auch viele meiner SeminarteilnehmerInnen (ich halte seit über 15 Jahren Pensionsvorbereitungsseminare für große Firmen) und Coaching-KlientInnen stellen.

Weiterarbeiten in der Pension - unbedingt?

Bis vor wenigen Monaten habe ich auf diese Frage immer geantwortet: “Unbedingt weiterarbeiten! Arbeiten ist gut für Kopf, Geist und ein gesundes Altern!”

Genauso reagierten gestern via Soziale Medien denn auch viele BerufskollegInnen, also BeraterInnen und Coaches, die (wie ich) Menschen rund um die Pension oder nach der Pension begleiten. Sie riefen unisonso: "Unbedingt weiterarbeiten, am besten wie bisher! Weiterarbeiten und der Unsichtbarkeit entgegenwirken!" 

Ich sehe das Thema jetzt differenzierter. Der Ruf nach Weiterarbeiten ist mir zu trendy geworden und der Druck auf angehende Pensionisten ist mir mittlerweile zu groß. Ich finde die Frage “Weiterarbeiten in der Pension- ja oder nein?” ist komplexer, als diskutiert. Es handelt sich aus meiner Sicht geradezu um eine philosophische Frage und auf die gibt es bekanntlich keine einfachen Antworten. Es lohnt sich, genauer hinzusehen. Versprochen!

Lebensspuren
Die Viele-Welten-Theorie und unser Leben

Wir treffen in unserem Leben tausende Entscheidungen, große wie kleine, die den Verlauf unseres Lebens und unserer Entwicklung bestimmen. Jede einzelne Entscheidung, ob gestern und auch morgen, führt in ein anderes Leben. Hätte ich beispielsweise damals mit 13 Jahren im Gymnasium Unterstufe nicht ständig Anderes im Kopf gehabt als Lernen, sondern mich wirklich der Mathematik und dem Latein gewidmet, hätte ich vielleicht eine 1A- Matura hingelegt, danach Medizin studiert oder auch Philosophie oder Lehramt. Jede dieser drei Studienrichtungen hätte mich in ein anderes Leben gelotst und mich zu einem anderen Menschen gemacht. Hätte ich damals mit 17 Jahren eine Lehre begonnen, Tierpflegerin, Fotografin, Köchin oder Zahnarzthelferin, hätte jeder dieser Wege ebenfalls in einem anderen Leben gemündet. Wäre ich nach meiner Scheidung mit 29 Jahren tatsächlich, wie erträumt, nach London gegangen oder nach Berlin, es wären jeweils zwei völlig andere Leben herausgekommen. Diese Liste kann unendlich fortgeführt werden. Versuche es mal!

Die Quantenmechanik geht in ihrer Viele-Welten-Theorie davon aus, dass es für jeden von uns, neben dem einen Leben, welches wir gerade leben, tausendfach weitere mögliche Leben (und übrigens auch Universen!) gibt. Diese vielen anderen möglichen Leben finden parallel zu unserem derzeitigen Leben statt. Dass wir unsere parallelen Leben nicht registrieren, liegt daran, dass der Mensch eine Vereinfachung der Welt wahrnimmt. Wir Menschen sehen die Welt nur dreidimensional. Mehr Dimensionen stehen uns nicht zur Verfügung. Das heißt aber nicht, dass es da nicht auch andere Dimensionen gibt und es eben parallel zu unserem Leben tatsächlich diese unzähligen anderen möglichen Lebensentwürfe von uns gibt.

Abgefahren, oder? Soll ich weiterdenken?

Hattest Du schon mal eine sehr schmerzhafte Lebenskrise, nach deren Bewältigung du zu deiner Überraschung ein anderer Mensch warst? Denkst du rückblickend, dass diese Krise und deine gesamte Entwicklung danach irgendwie in sich schlüssig ist? Nun, und jetzt bin ich ganz unwissenschaftlich, vielleicht hast du in dieser Krise, in der ja auch eine Entscheidung gefallen ist, einfach dein Leben gewechselt? Du bist immer noch du, aber halt in einem parallelen Leben und der Schmerz war quasi nur die Erschütterung durch den Spurwechsels? 

spurwechsel im leben
Was das alles mit der Frage “Weiterarbeiten im Ruhestand- ja oder nein?” zu tun hat?

Vor mehr als 20 Jahren meinte der Schweizer Gerontologe Urs Kalbermatten in einem Vortrag, der Ruhestand wäre die einzige Zeit im Erwachsenenleben, wo unsere wirtschaftliche Existenz, durch die monatlichen Pensionszahlungen, gesichert ist. Deshalb würde die Zeit der Pension die Chance bieten, sich neu zu erfinden. “Wer sind Sie noch, außer die Person, die Sie bisher waren?” rief er damals den Zuhörenden entgegen und ich erinnere mich, wie sehr mich diese Aussage bewegte.   

Zurück zur Quantenmechanik und der Viele-Welten-Theorie. 

Was wäre, wenn das Weiterarbeiten in der Pension im gewohnten Arbeitsumfeld nichts anderes ist, als die Fortführung des jetzt stattfindenden Lebensentwurfs, während Dir gleichzeitig tausende andere Leben zur Verfügung stehen?  

Vielleicht ist dieses Verharren in der Erwerbsarbeit, und jetzt werde ich provokant, nichts anderes als Gewohnheit, nichts anderes als tradiertes Leistungsdenken, nicht anderes als eingeschränkte Fantasie oder auch nur mangelnder Mut zu Neuem? So nach dem Motto: Ich bin erfolgreicher Unternehmer, Beamtin, Arzt, Architektin und diese Selbstdefinition ist die einzige, die ich wage? Vielleicht haben Menschen, die durch den Wegfall der Arbeit in eine Pensionskrise stürzen, in erster Linie dabei Probleme, eine neue Identität zu finden, einfach weil sie Angst davor haben, einen Spurwechsel vorzunehmen oder weil sie nicht wissen, wie dieser funktioniert?

Tätig zu sein in der Pension ist wichtig. Keine Frage! Davon bin ich ebenfalls, wie meine oben genannten BerufskollegInnen, überzeugt. Der Mensch ist ein tätiges Wesen. Niemand erträgt 20 Jahre Hängematte. Aber ich bezweifle, dass es unbedingt Erwerbsarbeit sein muss und schon gar nicht, dass es die Arbeit im bisher gewohnten Berufsfeld sein muss.

Ich bin mittlerweile davon überzeugt, es gibt viele Wege in den Ruhestand. Weiterhin erwerbstätig zu sein, kann dabei EIN möglicher Weg sein und selbstverständlich kann dieser Weg erfüllend sein und sogar zu großem späten Erfolg führen. Dafür gibt es Vorbilder.

Harland Sanders etwa war Koch und berühmt für seine Brathähnchen. Sein Restaurant Kentucky Fried Chicken gründete er aber erst im Alter von 62 Jahren und es wurde eine der bekanntesten Fastfood-Ketten weltweit. Geta Bratescu, die Grande Dame der konzeptuellen Kunst Rumäniens, wurde erst im Jahr 2017 im Alter von 90 Jahren international gefeiert, ihre Werke wurden auf der documenta und der Biennale Venedig gezeigt. Berufliche Konstanz auch im Ruhestand kann ein sehr guter Weg sein und zu hoher Lebenszufriedenheit führen.

neue wege im ruhestand
Aber auch andere Wege in die Pension sind möglich!

Einer dieser alternativen Wege wäre, die gewohnte Lebensspur zu wechseln und einen ganz neuen Lebensentwurf auszuprobieren. Auch dafür gibt es reichlich Vorbilder.

Ilse Helbich etwa, die österreichische Schriftstellerin, war bis zu ihrer Pension fürs Radio tätig. Nach ihrem Pensionsantritt zog sie sich zurück ins Weinviertel und begann zu schreiben. Mit 60 Jahren legte sie ihren ersten Roman vor. Bis heute, sie ist jetzt weit über 90, schreibt sie wunderbare Bücher. Bücher über das Altern übrigens.

Anna Mary Robertson Moses (besser bekannt als Grandma Moses) begann erst mit 78 Jahren mit dem Malen und wurde als amerikanische Malerin weltweit für ihre ländlichen Landschaftsbilder bekannt, ihre Bilder wurden hoch gehandelt. 

So ein Spurwechsel muss allerdings nicht unbedingt Berühmtheit und wirtschaftlichen Erfolg nach sich ziehen. Es geht nicht darum, sich erneut über Leistung zu definieren! Das neue Leben könnte auch einfach nur zu einer neuen Art von Erfüllung führen? Warum soll jemand, der sich in der Pension in eine Berghütte zurückzieht, mit Hingabe Gedichte schreibt und diese einmal jährlich auf einem Poetry-Slam-Festival zum Besten gibt, nicht ein gutes Leben führen? Warum sollte jemand, der in der Pension eine Weltreise mit dem Rad startet, mit offenem Ausgang, und der damit in eine neue Lebensspur wechselt, nicht zufrieden sein? Oder warum sollte jemand, der nach 45 Jahren Erwerbsarbeit in ein Kloster geht und bis zum Tod einen spirituellen Weg wählt, sein Leben nicht als erfolgreich betrachten?

Die Idee, dass wir jeden Augenblick unseres Leben, also auch noch mit 60, 70 oder 90 Jahren, eine andere Lebensspur wählen und ausprobieren können, finde ich geradezu inspirierend. Daher möchte ich Menschen beim Älterwerden ermutigen, genauer hinzuschauen. Der gewohnte Weg kann der richtige Weg sein. Trotzdem kann es auch einen anderen, viel spannenderen Weg geben. Ich mag es, wenn Menschen ihre Möglichkeiten erkennen und daraus bewusst ihre, für SIE richtige Entscheidung treffen.

Und, in welchen Leben wärst Du gerne?

Service

Bilder dieses Artikels: Chris Kinkel, Gaby Stein, Wolfgang Beisswenger, Cocoparisienne via pixabay.com

Wer sich näher mit der Viele-Welten-Theorie der Quantenmechanik beschäftigen möchte, dem sei abschließend gesagt, dass es zur Zeit einen wunderbaren Roman zu diesem Thema gibt.

Die Mitternachtsbibliothek. Von Matt Haig. Absolute Leseempfehlung von meiner Seite!

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