Alter ist eine Illusion

Das Buch Alter ist eine Illusion von Michael Lehofer war 2020 in Österreich ein Bestseller. Grund genug für mich, einen Blick auf das Buch zu werfen. Wie immer bei Rezensionen frage ich mich, welches Altersbild wird in dem Buch vermittelt? Wie wird Altern kommuniziert? Trägt das Buch etwas bei für ein neues Bild von Altern oder vermittelt es Stereotypien?

Das Alter ist ein Lebensabschnitt, den zu erreichen, sich die meisten von uns erhoffen. Ein langes Leben – in fast allen Sprachen dieser Welt wünscht man so „Alles Gute zum Geburtstag“. Mit jedem Jahr, in Wirklichkeit mit jedem Tag, wird unser Wunsch quasi auf leisen Sohlen mehr und mehr Realität. Alter geschieht, wenn nichts dazwischenkommt, von ganz allein. Ein Grund zur Freude, sollte man meinen. Immerhin erfüllt sich ein sehnlicher Wunsch.

Zum Inhalt

Das Buch trägt den Titel Alter ist eine Illusion und den Untertitel „Wie wir uns von den Grenzen in unserem Kopf befreien“.  Aus meiner Sicht stehen jedoch die Inhalte des Untertitels im Vordergrund. Es geht, im Großen und Ganzen, um das Thema der Konstruktion des eigenen Lebens, frei nach dem Motto: Du bist, was du denkst und dein Denken kannst du verändern.

In vielen kleinen Kapiteln mit Überschriften wie „Von der Schande, alt zu werden“ über „Bindungen sind unser Lebenselixier“ oder „Krisen sind Zeiten der Neuordnung“ und „Was es bedeutet, ein sinnliches Leben zu führen“ werden wichtige Entwicklungs- und Wachstumsthemen des Menschen angesprochen.

Aufgehängt scheint dieser Inhalt am Thema Altern. Doch das ist ein verkaufstechnischer Kunstgriff.  Denn eigentlich geht es in diesem Buch darum, wie man jung bleiben kann, obwohl man altert. Diese Intention des Buches wird auf der Rückseite des Klappentextes auch beim Namen genannt: Den Quell ewiger Jugend finden. 

Zum Autor

Michael Lehhofer ist Arzt, genaugenommen Psychiater, Psychologe und Psychotherapeut. Er arbeitet als ärztlicher Direktor und Leiter einer Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie in Graz, außerdem ist er als Führungskräftecoach, Philosoph und Buchautor tätig.

Mein fachlicher Blick auf das Buch

VORWEG: Ich ziehe meinen Hut vor Lehofer, weil er es verstanden hat, komplexe Inhalte, auch alternswissenschaftlicher Natur allgemein verständlich und spannend zu kommunizieren. Da tut sich Wissenschaft, da tun sich Fachpersonen, in der Regel sehr schwer. Also, dafür Chapeau!

ABER: Für mich, die ich seit Jahren die positive Seite des Alters und Älterwerdens vermittle, versuche Ängste vor dem Altern zu nehmen und Lust zu machen auf ein spannendes Leben jenseits der Jugendlichkeit, ist das Buch eine Enttäuschung. Irgendwie fast Verrat.

Was auf den ersten Blick, vor allem wegen des Titels, wie ein positives Buch über das Älterwerden daherkommt, ist im Prinzip ein Buch mit dem Aufruf „Bleib um Gottes Willen jung“. Kapitel um Kapitel weist der Autor dem Alter negative Eigenschaften zu wie Beharren auf Meinung, Verbitterung, Jammern, nicht zuhören können, beleidigt sein vom Leben, Selbstmitleid und viele andere mehr, während er dem Begriff „jung“ positive Eigenschaften zuordnet. Jung bleibt man, wenn man trotz Alter keine Angst vor Veränderungen hat, keine Angst vor dem was kommt, wenn man auch mit 100 im Moment und der Gegenwart lebt, um nur einige der genannten Eigenschaften zu nennen.

Jung wird in diesem Buch positiv besetzt, alt negativ, es gibt junges Verhalten und altes Verhalten. Wer alt ist, aber jung bleiben will, darf sich nicht „alt verhalten“. Das geht sogar so weit, dass so wichtigen Dinge wie Wachstum und Weiterentwicklung, die vor allem durch die gelebten Jahre und gemachten Lebenserfahrung stattfinden, dem Prädikat jung zugeordnet ist. Wer alt ist, dabei immer weiterwächst und reift, ist jung. Was jetzt in diesem Blogbeitrag schon kompliziert klingt, ist es auch im Buch. Man ist verwirrt.

Mir stellt sich die Frage: Warum verdammt noch mal muss ich jung bleiben, wenn ich alt bin? Und warum gibt es in diesem Buch keine positiven Assoziationen zu Alter? Ich kann alt sein UND wissbegierig. Ich kann alt sein UND dankbar für das gelebte Leben. Ja, ich kann sogar steinalt sein UND interessiert an Neuem.

Als Expertin für Fragen des Alterns, aber auch als Frau in fortgeschrittenem Leben, bedaure ich den Weg, den Michael Lehofer mit diesem Buch eingeschlagen hat. Das hätte nicht sein müssen, das wäre anders möglich gewesen. Und ich finde, das entspricht auch dem Autor und dem eigentlichen wunderbaren Inhalt des Buches so gar nicht. Schade!

Kleiner Gedanke dazu: Vielleicht war es die Marketingabteilung des Verlages, die meinte, man muss unbedingt jene Leserschaft bedienen, die Angst vor dem Altern hat und eben eines will: Jung bleiben. Wenn es so war: Gelungen! Das Buch ist ein Bestseller geworden.

Mein persönlicher Blick aufs Buch

Abgesehen von dem nervenden Unsinn der alt-jung-Zuschreibungen, ist das Buch aber ein wahrer Schatz. Es geht darin ums Mensch sein und ums Leben, um die vielen Möglichkeiten das Leben zu sehen, es geht um Lebenshaltungen, um Wachstum bis zu letzten Lebenssekunde.

Lehofer beschreibt, wie wir vom Leben geprägt werden, wie wir daraus unsere Hoffnungen und Ängste entwickeln, unser Leben und uns selbst deuten, konstruieren und er zeigt Wege auf, wie wir uns aus diesen Konstruktionen befreien und zu uns selbst finden können.

Mich hat das Buch an vielen Stellen ins Nachdenken geführt und in einer aktuellen Situation meine Selbstreflexion angeregt.

Mein Fazit zum Buch Alter ist eine Illusion

Ich hätte diesem, im Grunde wunderbaren Buch einen anderen Titel gegeben. „Wie Du neugierig und wach steinalt werden kannst“ oder „Lebe dein Leben bis zur letzten Lebenssekunde“.

Aber damit wäre es wahrscheinlich kein Bestseller geworden. Das interessiert nämlich die ewig jung bleiben Wollenden nicht. Sie bleiben lieber bei der Illusion, dass man sich nur „jung“ verhalten muss, um nicht alt zu werden. Und das ist tatsächlich eine Illusion.


Alter ist eine Illusion

Michael Lehofer, 190 Seiten, GU-Verlag